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März - November 2011

 

 
 
 

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MITTWOCH, 23. MÄRZ 2011

Der Alltag der Alltagsforschung: Wir kartieren die Wege, die wir in unserer Wohnung zurücklegen und stellen fest, dass mindestens zwei Drittel überflüssig sind. Was man aus einer Zeitmanagement-Perspektive furchtbar und mit Brecht großartig finden kann. Wir verfolgen Passanten und halten es kaum aus, wenn jemand 25 Minuten bei Billa braucht. Wir haben ab 20.00 Uhr keinen Strom mehr, was einmal mehr zeigt, wie der Alltag von urbanen Infrastrukturen abhängig ist. Wir essen. Wir rauchen. Wir stoßen uns den Kopf in der Forschungsstation. Wir kommen dem Alltag langsam auf die Schliche. Aber die Frage, was man eigentlich den ganzen Tag so macht, können wir immer noch nicht beantworten.


DIENSTAG, 21. MÄRZ 2011

Der erste Tag der ersten Expedition liegt hinter uns. Die Forschungsstation ist an das Stromnetz angeschlossen, die Forschung hat begonnen. Wer uns besuchen möchte, findet uns an der südöstlichen Ecke des Elisabeth-Platzes. Es gibt Café und weißen Spritzer.


SONNTAG, 20. MÄRZ 2011

Im Rahmen der Alltagsforschung am St.-Elisabeth-Platz zeigen katze und krieg den ersten Probedurchlauf der Performance "wenn die Sonne untergeht" am Samstag den 26.3.2011. Premiere wird im Mai im LOT Theater in Braunschweig/Deutschland sein. Weitere Aufführungen finden im Theaterhaus Hildesheim, der Brotfabrik Berlin, auf dem Festival Unithea in Frankfurt an der Oder und im Juli im WUK in Wien im Rahmen des Jacuzzi Festivals, statt. Genaue Termine sind zu finden unter: www.katzeundkrieg.de

 

wenn die Sonne untergeht

…wir tanzen Walzer mit den Männern im Wettbüro……wir klettern mit einem Bauscheinwerfer in die verlassene Behausung eines verstorbenen Obdachlosen….wir trinken Coca-Cola im Bordell während der Freier für seine Prostituierte strippt…wir verstecken uns unter dem festlich gedeckten Tisch einer Versammlung türkischer Intellektueller und lassen uns mit Oliven füttern…

Der Tag liegt hinter uns, die Arbeit, das Einkaufen, das Emailschreiben, das Aufräumen, das Radfahren, das Kochen…aber das kann nicht alles sein, was das Leben zu bieten hat!
Wir brechen auf. Eine Performance beginnt.



SAMSTAG, 19. MÄRZ 2011

Gerade noch rechtzeitig, d.h. am Freitag um ca. 9:23 Uhr, konnte das Institut die offizielle Genehmigung inkl. der Unterschriften von VertreterInnen verschiedener Magistratsabteilungen zur Aufstellung eines Wohnwagens mit 4,5 m Länge und 2,08 m Breite (sowie ein Tisch mit Sesseln) auf dem St. Elisabeth-Platz im 4. Bezirk ergattern. Der Weg für die erste Fahrt unserer Forschungsstation scheint damit frei!!!

Das Institut für Alltagsforschung möchte sich bei allen VerterterInnen der beteiligten MAs und bei der Bezirksvertretung von Wieden ganz herzlich für die rasche Hilfe bedanken. Unser Dank gilt besonders Frau Barbara Neuroth (Bezirksvorsteher-Stellvertreterin Wieden) und Herrn Leopold Plasch (Bezirksvorsteher Wieden).

Die Forschungsstation des Instituts wird ab Montag, 21. März am St.-Elisabeth-Platz im 4. Bezirk andocken. Wir freuen und unsere Café-Maschine freuen sich auf Besuch! Wir werden voraussichtlich täglich zwischen 11.00 und 18.00 vor Ort sein. Wer sicher gehen möchte, dass er uns antrifft, melde sich unter der HIER angegebenen Telefonnummer.



DONNERSTAG, 17. MÄRZ 2011

Angesichts unseres Logos oder der am 16. März veröffentlichten Bilder unserer Forschungsstation könnte man vermuten, wir seien CCTV-Besessene. Beinahe zu recht. Lars Schmid, Gründer des Instituts für Alltagsforschung, beschäftigt sich bereits seit beinahe 10 Jahren mit dieser Technologie. Ihm gilt die Videoüberwachung einerseits als Symptom bzw. als zentrales Element in einem Dispositiv gegenwärtiger Machtausübung, das Gilles Deleuze als Kontrollgesellschaft bezeichnete und das geprägt ist von unterschiedlichen Formen sanfter Machttechnologien, deren Aufgabe die Kontrolle von Stömen (von Menschen, Waren, Daten) auf einem offenen Terrain ist. Die Überwachungskameras verweisen auf die Durchdringung des Alltagsraumes mit Technologien der Macht, auf die historischen Veränderungen, die diesen Raum strukturieren. Insofern ist die Technologie der Teleüberwachung zunächst einmal Gegenstand der Forschung des Instituts für Alltagsforschung.

Andererseits birgt diese ubiquitäre Technologie das Versprechen (und die Drohung), dass alles, was passiert, gesehen und gespeichert werden wird - der interesselose Blick der Kamera richtet sich gleichmütig auf alles, was sich in seinem Blickfeld ereignet. Mit diesem Versprechen entsteht vielleicht die Chance, die Überwachungskameras als ein Medium der Dokumentation, Aufzeichnung und Erforschung des alltäglichen Lebens umzufunktionieren. Die Kameras sind gleichzeitig Gegenstand und Methode der Alltagsforschung - und deshalb so ein beliebtes Motiv im Institut.

Einen Text von Lars Schmid über den politischen Kontext der Überwachung und das "Reich des polizeilichen Zartgefühls" findet sich HIER, ein anderer (die schriftliche Fassung eines Vortrags, der im Rahmen eines Workshops zum Thema Identifizierung an der Uni Wien gehalten wurde) über verschiedene Formen sog. intelligenter Kameraüberwachung HIER.



MITTWOCH, 16. MÄRZ 2011

Zur Zeit wird unsere Forschungsstation technisch hochgerüstet. U.a. wurde ein Videosystem installiert, das 1. Material für ein Archiv alltäglicher Gesten, Handlungen und Szenen generieren und 2. den Alltag des Instituts dokumentieren soll. Dem Institut geht es beim Einsatz dieses CCTV-Systems nicht zuletzt um die produktive (und provokative) Umnutzung und Entwendung einer Technologie, die sonst der Regulierung und der Kontrolle des Alltagslebens dient.

 


DIENSTAG, 15. MÄRZ 2011

Protokoll einer Zugfahrt, die Fragen nach dem Verhältnis zwischen dem Alltäglichen und dem Außergewöhnlichen aufwirft:

13:5h5: Abfahrt des InterCityExpress von Frankfurt Hbf. nach Wien Westbhf.

15:31h: Würzburg Hbf.

16:27h: Nürnberg Hbf., an.
16:30h: Nürnberg Hbf,. ab.

Etwa zehn Minuten nach der Abfahrt aus Nürnberg kommt der ICE Innsbruck bei Ochenbruck durch eine Notbremsung zum Stehen. Der Zugführer wird angewiesen, sich dringlichst beim Lokführer zu melden. Kurze Zeit später informiert der Lokführer alle Reisenden, dass sich die Weiterfahrt wegen spielender Kinder auf den Gleisen noch etwas verzögern wird. Mit zittriger Stimme wiederholt er dies um 17h. Meine Gangnachbarin merkt lapidar an, sie hoffe, es sei kein Kind angefahren worden.

Ich frage mich, wer auf die Idee kam, den Code: „Wegen spielender Kinder auf den Gleisen wird sich die Weiterfahrt um einige Minuten verzögern.“ einzuführen, um zu vertuschen, dass jemand – ein Selbstmörder? - vom Zug erfasst wurde.

Um 17:15h teilt der Lokführer mit, die Weiterfahrt werde sich wegen polizeilicher Ermittlungen noch um etwa 10 Minuten verzögern. Mein Verdacht bezüglich des spielenden-Kinder-Codes bestätigt sich.

Um 17:25h ärgere ich mich keine Gummibärchen mitgenommen zu haben.

17:29h: Geduldiges Warten und Stille. Keine Spur von Aufregung und Hysterie. Mitgehangen, mitgefangen müsste jetzt ja auch heißen: mitgefahren, mitgetötet. Ein Glück: Offiziell stehen wir hier ja nur wegen spielender Kinder.

17:34h: Noch ne Durchsage.

17:37: Die Fahrt wird fortgesetzt! Die derzeitige Verspätung beträgt 55 Minuten. Die Mär mit den spielenden Kindern trällert erneut aus den Zuglautsprechern.

Um 17:52h höre ich wieder das Hörspiel zu Dietmar Daths „Abschaffung der Arten“, das ich um fünf vor fünf unterbrochen habe.

21.04h: An St. Pölten Hbf. Der dritte Teil des Hörspiels wird bald beendet sein. Der Rückstand des Zuges ICE Innsbruck auf den ursprünglichen Reiseplan beträgt nur noch 23 Minuten.

21:26h: Zeitpunkt der planmäßigen Ankunft in Wien.

22:03h: Mit einem Bier versuche ich mich darüber hinweg zu trösten, dass der Zug wegen einer polizeilichen Gleissperrung bereits seit 30 Minuten kurz vor Tullnerbach Pressbaum steht. Eine Bahnmitarbeiterin, die mit gepackter Tasche im Bordbistro sitzt, sagt: „Erst spielende Kinder im Gleis bei Nürnberg und jetzt schon wieder. Nicht, dass das zum Volkssport wird.“

Um 22:10h meldet sich der Lokführer nicht noch einmal. Er hatte angekündigt, dies erst wieder zu tun, wenn er uns verlässlich über die Weiterfahrt informieren könne.

22:17h:Der Zug steht immer noch. Währenddessen verlassen Hannah Kessler und Lars Schmid, die mich abholen wollten, den Wiener Westbahnhof und suchen eine Bar auf. Als sie den Bahnsteig verlassen, zeigt die Anzeigetafel eine Verspätung von 89 Minuten an. Jetzt habe ich das Recht, meinen Fahrpreis zurückzufordern.

22:29h: Der Lokführer spricht! Die Streckensperre wurde aufgehoben, der Zug setzt sich wieder in Bewegung.

22:48h Ankunft Wien Hbf.


DONNERSTAG, 3. MÄRZ 2011

Meinungen, die wir teilen, Teil 1:

"Ein unkritisiertes alltägliches Leben bedeutet heutzutage die Verlängerung der aktuellen, zutiefst verkommenen Formen der Kultur und der Politik"

(Guy Debord: Perspektiven einer bewussten Änderung des alltäglichen Lebens, in: Roberto Ohrt (Hrsg.): Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten, Hamburg 1995, S. 98-105, hier. S. 100)